Was ist Kritisches Denken eigentlich?
Sei es im Bereich der fortschreitenden Digitalisierung und KI, sei es bei der Begegnung des Klimawandels- und des Artensterbens, sei es im Hinblick auf Wissenschaftsverdrossenheit oder der Verteidigung der Demokratie: Kritisches Denken wird immer mehr zum zentralen Bestandteil moderner Bildungskonzepte und stellt eine der wichtigsten Kompetenzen für das 21. Jahrhundert dar. Die große Hoffnung ist dabei, dass die Förderung von Kritisches Denken zu einem souveränen und konstruktiven Umgang mit Komplexität führen kann.
Etliche nationale und internationale Untersuchungen zeigen aber, dass zumindest im Schulbetrieb viele Lehrkräfte keine genauere Vorstellung davon haben, was Kritisches Denken ausmacht und wie es sich wirksam fördern lässt. Auch gibt es etliche Untersuchungen die belegen, dass Lernende häufig nicht wirksam im Kritischen Denken gefördert werden und dies auch im Bereich der Hochschulen und Universitäten. Die systematische Ausbildung von Bildungspersonal zur Förderung von Kritischem Denken steckt zudem in Deutschland noch in den Kinderschuhen.
Um Kritisches Denken wirksam fördern zu können, braucht es eine klare, präzise und reichhaltige Vorstellung zu dem, was es als Konzept meint. Darauf aufbauend können dann wirksame Förderansätze gestaltet werden. Dazu gibt es umfassende und fundierte Forschunsgergebnisse, welche methodischen Settings am besten funktionieren. Die Frage aber, was nun Kritisches Denken genau bedeutet, lässt sich nicht einfach beantworten. Je nach Autorin und Autor, je nach Disziplin und Wissenschaftsverständnis können dabei die Definitionen durchaus unterschiedlich ausfallen, auch wenn es dabei meist einen gemeinsam Kern gibt.
Was meint nun Kritisches Denken genau? Ist es das Prüfen von Quellen auf ihren Wahrheitsgehalt und ihre logische Richtigkeite nach wissenschaftliche Kriterien und Gesetzen der Logik, etwa, wenn wir einen von ChatGPT generierten Text unter die Lupe nehmen, um zu sehen, ob die dort vertretenen Aussagen, die getroffenen Schlüsse und angeführten Belege stimmen, also logisch richtig und empirisch wahr sind? Oder geht es bei Kritischem Denken auch um ethische Reflexion, um normative Aussagen differenzieren und bewerten zu können, etwa, wenn eine bestimmte Leitkultur für Deutschland in dem Text gefordert wird? Geht es darum, möglichst viele und voneinander abweichende Perspektiven zu einem Sachverhalt zu rezipieren und zu prüfen, um sich dadurch ein reiferes und reichhaltigeres Bild machen zu können? Meint Kritisches Denken gar, die eigenen methodologischen Standards, das eigene eingesetzte Denkwerkzeug auf seine Stimmigkeit, Begrenztheit oder auf seine Voraussetzungen hin zu reflektieren? Wie steht es also um uns selbst, um unser Wahrnehmen, Handeln und Fühlen? Sollten wir uns selbst nicht auch zum Gegenstand Kritischen Denkens machen, etwa bei unseren Konsumentscheidungen, und wenn ja, was gibt es dabei zu beachten?
Konzeptionelle Zugänge
In der vorwiegend englischsprachigen Literatur sind grundsätzlich mindestens zwei unterschiedliche Arten von Konzeptbeschreibungen zu Kritischen Denken zu finden, wobei diese Ansätze auch miteinander verknüpft werden können. Die Mehrheit der Konzeptbeschreibungen konzentriert sich darauf, die Denkvorgänge selbst zu klären, die mit dem kritischen Denken in Verbindung stehen. Der Zugang zu kritischem Denken in diesen eher psychologisch geprägten Ansätzen ist die Innenansicht beim Denken; der Ort des Geschehens ist dabei das denkende Gehirn, das unterschiedlichste kognitive und metakognitive Prozesse (z. B. Analyse, Evaluation, kognitive Regulation usw.) anhand bestimmter Kriterien und Standards überwacht und steuert. Die unterschiedlichen Prozesse und Teilprozesse orientieren sich dabei an Kriterien und Standards verschiedener Bezugswissenschaften wie der Logik (wie z. B. logische Richtigkeit, Klarheit, Widerspruchsfreiheit), Statistik (Exaktheit), Wahrscheinlichkeitslehre (Plausibilität), wissenschaftlicher Methodologie (empirische Richtigkeit, korrekte Anwendung von Methoden) oder Erkenntnistheorie (Reflexion der Erkenntnisvoraussetzungen). Diese regel- und kriterienbasierenden, prüfenden kognitiven Prozesse der Rationalität zielen darauf ab, Quellen wie Studien, Beobachtungen, Texte, Gespräche usw. zu analysieren und dadurch reifere Urteile zu einem bestimmten Sachverhalt, der Gegenstand des kritischen Denkens ist, zu entwickeln und dadurch Probleme zu lösen. Kritisches Denken ist vor allem also analysierendes, prüfendes Denken, das sich in einer psychologischen Perspektive in bestimmte Gehirnvorgänge auflösen lässt. Kognitive Verzerrungen und der Umgang damit stellen aus dieser Warte eine weitere wichtige Facette, ein weiteres, wichtiges Update im Diskurs zu Kritischem Denken dar. Hauptgrund dafür war der Erfolg von Daniel Kahnemanns Buch „schnelles Denken, langsames Denken“ (2011). In dem Werk konnte der Psychologe überzeugend zeigen, dass der Mensch längst nicht so rational ist wie er sich stets dafür hält, sondern wir im Alltag allzu häufig anfällig sind für selektives, einseitiges und verzerrtes Wahrnehmen und Denken. Hier ein paar Beispiele:
1. Negative Bias: Wir neigen dazu, negative Ereignisse, Informationen oder Erfahrungen stärker zu gewichten oder zu erinnern als positive. Diese Tendenz kann dazu führen, dass einige von uns pessimistischer oder negativer eingestellt sind und sich stärker von negativen Erlebnissen beeinflussen lassen. Im Medienkonsum ist der Negative Bias oft zu beobachten, wenn negative Nachrichten und Ereignisse mehr Aufmerksamkeit erhalten als positive.
2. Bestätigungsfehler: Die Tendenz, Informationen selektiv auszuwählen und zu interpretieren, um unsere vorhandenen Überzeugungen und Annahmen zu bestätigen, während wir Informationen, die dem widersprechen, ignorieren oder herunterspielen, z. B. bei Debatten um den Klimawandel und dessen Anzweiflung.
3. Verfügbarkeitsheuristik: Die Neigung, die Häufigkeit oder Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses aufgrund der Leichtigkeit, mit der uns relevante Beispiele oder Informationen in den Sinn kommen, zu überschätzen - z. B., wenn im eigenen Bekanntenkreis niemand an Covid 19 verstorben ist zu denken, die Krankheit wäre nicht gefährlich.
4. Ankerheuristik: Die Neigung, unsere Einschätzungen oder Entscheidungen stark von einem anfänglichen Referenzpunkt oder "Anker" beeinflussen zu lassen, selbst wenn dieser nicht objektiv relevant ist. Beispiel: das Einblenden von bestimmten Spendensummen bei einer Spendengala beeinflusst mit hoher Wahrscheinlichkeit auch unsere Spende.
In aktuellen Veröffentlichungen zu Kritischem Denken werden folglich kognitive Verzerrungen als wichtiger Aspekt aufgenommen, mit dem Ziel, dem Wahrnehmen und Denken inhärente, irrationale Muster und Fallen zu erkennen und zu durchbrechen. Das kann z. B. bedeuten, vorschnelles Urteilen, Liken oder Weiterleiten zu suspendieren, Gelassenheit zu kultivieren und durch Selbstreflexion und Aufmerksamkeitstraining Abstand von Impulsen zu erlangen. In dieser Perspektive (und weiteren) wird Kritisches Denken zum selbstreflexiven Denken, dass das eigene Wahrnehmen, Fühlen und Handeln kritisch unter die Lupe nimmt.
Wenn wir beispielsweise einer Falschnachricht auf den Leim gehen, dann passiert das meist unbewusst durch schnelles Denken, etwa, weil wir uns nicht die Zeit nehmen, die Aussagen näher zu prüfen oder wir uns anderen Personen, die diese Nachricht bereits akzeptiert haben und diese kommentieren, anschließen. Oder, im Falle von ChatGPT, sind wir es nicht gewöhnt, dass seriös klingende Aussagen oder Belege in einem wissenschaftlich anmutenden und gut geschriebenen Text, in dem die formalen Regeln wissenschaftlichen Zitierens beachtet scheinen, einfach erfunden sind, bis hin zum gesamten Literaturverzeichnis. Ähnlich verhält es sich mit Inhalten, die in unseren Wahrnehmungshorizont treten, aber nicht als Ansammlung von Aussagesätzen wie in einem Text daherkommen, sondern sich anderer Symbole und der Medialität des Nichtsprachlichen bedienen: Bilder, Visualisierungen, Gemälde, Photos, Tonaufnahmen, Collagen, Memes, Videos und dergleichen haben oftmals eine noch eine viel größere Wirkung, um uns emotional zu packen, aufzurütteln, zu empören, zu verstören und gar zu beeinflussen. Auch ihnen gegenüber muss eine skeptische Haltung eingeübt und eine zielgerichtete Analyse und Prüfung entgegengesetzt werden, um nicht kognitiven Verzerrungen oder gar der Manipulation anheim zu fallen. Im Zeitalter synthetisch kreierter Medieninalte, die sich immer leichter, schneller und immer professioneller mit generativer KI herstellen lassen (Stichwort "Deepfakes"), wird das Kritische Denken immer stärker benötigt und herausgefordert. Die Analyse arbeitet aber hier mit anderen Kriterien und Strategien, als das bei der bereits angesprochenen logischen (z. B. stimmen die Schlussfolgerungen?), empirischen (sind die Annahmen tatsächlich faktenbasiert?) und erkenntnistheoretischen Prüfung (wie und unter welchen Voraussetzungen kam das Wissen zustande?) etwa der Fall ist. Fragen können hier beispielsweise sein:
- Zur Inszenierung des Gezeigten:
- Was wird gezeigt?
- Wie wird etwas inszeniert und dargestellt (Einsatz von Schnitt, Perspektive, Sound und Musik, Licht, Farben, Kontraste, Arrangement usw.)?
- Welcher Ausschnitt der Realität wird gezeigt und welcher Zugang, welche Perspektive wird dabei genutzt?
- Was wird nicht gezeigt (und wäre aber relevant)?
- Vom wem stammt das Gezeigte und in welchem Kontext wird es verwendet?
- Ist das Gezeigte authentisch oder könnte es manipuliert worden sein?
- Zur Rezeption und Intention des Gezeigten:
- Welche Botschaften transportiert das Gezeigte?
- Welche Wirkungen entfaltet es bei mir und warum?
- Welche Wirkungen soll das Gezeigte erzielen?
- Ist das Gezeigte empirisch haltbar?
- Welchen Wahrheitswert hat das Gezeigte?
In diesem Modus wird Kritisches Denken zur kritisch-ästhetischen Analyse.
Anstatt den Fokus aber nur auf die kognitive Perspektive des prüfenden Denkens zu legen, gibt es in der Forschung aber auch Ansätze, die Handlungs- und Interaktionssituationen beim Kritischen Denken und dessen Bedingungen in unserer menschlichen Lebenselt betrachten. Kritisches Denken wird hier als ganzheitlicher, performativer, körperlicher und sozialer Prozess verstanden, der den Menschen in Wechselwirkung mit seiner Umgebung und Umwelt begreift und die verschiedenen Handlungen, Interaktionen und auch Emotionen dabei verdeutlicht. In solchen phänomenologischen und handlungstheoretischen Modellen bleibt Kritisches Denken nicht auf das Gehirn und höhere kognitive Prozesse beschränkt. Es geht vielmehr darum, die notwendigen Handlungsschritte, Bedingungen, Situationen und das ganzheitliche Erleben zu zeigen, die das kritische Denken ausmachen. Das Einlösen und Beurteilen von Geltungsansprüchen findet z. B. nicht nur im Gehirn statt, sondern auch in der Interaktion mit der Realität, mit verschiedenen Interaktions- und Gesprächspartnern, in verschiedenen Handlungen und Kontexten. Dazu gehören eben auch kognitive Prozesse wie die distanzierte Reflexion, bei der sich eine Person aus dem Geschehen zurückzieht, um Raum für langsames Denken zu schaffen, zum Beispiel durch Schreiben am Schreibtisch oder stilles Selbstgespräch während eines Spaziergangs. Der Dialog mit anderen und weitere Interaktionen mit und in der Lebenswelt sind aber für Kritisches Denken genau so wichtig, um sich z. B. mit anderen auszutauschen, Erfahrungen zu sammeln und zu diskutieren, Untersuchungen anzustellen, sich in andere Personen oder Lebensformen einzufühlen, andere Perspektiven zu erkunden, deren Interdependenzen zu analysieren, Quellen zu sichten und Beobachtungen anzustellen sowie das eigene kritische Denken kritisch zu hinterfragen. Auch eigene Bauchgefühle, Intuitionen oder Emotionen werden dabei reflektiert mit einbezogen. Diese Modelle sind für die Förderung von Kritischem Denken besonders hilfreich, da sie die notwendigen Bedingungen und Schritte zeigen, die für den Prozess Kritischen Denkens notwendig sind.
Kritisches Denken bedeutet in einem handlungstheoretischen Modus, herausfordernde Fragen zu einem Sachverhalt zu stellen, von dem ich einen Weckruf erhalten habe, und im Weiteren zu versuchen, reichhaltige, verlässliche Antworten darauf selbstständig zu gewinnen, indem ich dem Sachverhalt durch zielgerichtete Erkundungs- und Reflexionshandlungen in unterschiedlichen und relevanten Handlungskontexten auf den Grund gehe – ein transformativer und interaktiver Bildungsprozess, in dem sich der Mensch einerseits einen Ausschnitt der Realität anverwandelt und zu eigen macht, andererseits selbst dadurch ein Stück weit verwandelt wird, etwa in seinem Wissen, Können oder seinen Überzeugungen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Kritisches Denken als die Kunst und Wissenschaft des reichhaltigen und tiefgehenden Fragens und des disziplinierten Suchens, Findens und Bewertens von Annahmen und Schlussfolgerungen verstanden werden kann, nach denen sich kritische Denker*innen richten, um informierter und bewusster Entscheidungen zu treffen und zu handeln. Annahmen und darauf fußende Schlussfolgerungen sind sozusagen die Währung des kritischen Denkens. Sie werden durch Kritisches Denken expliziert, verglichen, geprüft, hinterfragt, erweitert, über Bord geworfen usw. Annahmen beeinflussen unser Denken und Handeln. Sie konfigurieren das schnelle Denken und können zudem unhinterfragt beim langsamen Denken als Rahmen der theoretischen Orientierung eine tragende Rolle spielen. Gerade jene tiefsitzenden Annahmen, die Weltanschauungen, Wahrnehmungen und Überzeugungen prägen und uns damit Orientierung, Sinn und Halt im Leben stiften, sind oftmals nur schwer zu ergründen und zudem relativ veränderungsresistent.
Vier Ebenen des Kritischen Denkens
Je nach Kontext, in dem Kritisches Denken zur Anwendung kommt, braucht es deshalb unterschiedliche Elemente, Denkstile und Haltungen. In meinen Forschunsgarbeiten zu Kritischem Denken habe ich versucht, ein ganzheitliches Verständnis zu Kritischem Denken zu entwerfen, das die wichtigsten Impulse aus den unterschiedlichen wissenschaftlichen Diskursen aufgreift und versucht, sie stimmig zu integrieren. Hier eine kurze Zusammenfassung zu dem Modell, auf dem auch die Didaktik Kritischen Denkens beruht, die ich über viele Jahre erforscht und entwickelt habe.
- Analytische Ebene (prüfendes Denken, Hauptpfeiler des Kritischen Denkens): Geltungsansprüche auf logische und empirische Richtigkeit prüfen, eigene und fremde Thesen, Meinungen und Schlussfolgerungen auf vorausgesetzte Annahmen prüfen, Reflexion von erkenntnistheoretischen Reichweiten und Grenzen der jeweiligen Kriterien und Methoden des Prüfens sowie den damit gesetzten Vorannahmen, Bewusstsein für Grenzen menschlicher Erkenntnis und Anfälligkeiten des Denkens entwickeln, dem eigenen Denken, Fühlen und Wahrnehmen auf die Spur gehen, ästhetische Analyse von Medienartefakten
- Perspektivische Ebene: Anerkennung von und Offenheit für unterschiedliche Sichtweisen auf Sachverhalte, methodische Einbeziehung dieser Pluralität durch ergebnisoffene Prüfung, sich in andere Personen und Lebensformen hineinversetzen (perspective taking), Analyse von Interdependenzzusammenhängen der unterschiedlichen Perspektiven, Erfassung von Komplexität
- Ethische Ebene: Kritische, rationale Analyse und Diskussion der moralischen Dimension menschlichen Handelns nach nachvollziehbaren, rational ausweisbaren Kriterien, Reflexion ungerechtfertigter Herrschaft, Analyse von Machtstrukturen, Ideologiekritik
- Konstruktive Ebene: Kreative Wege zur Annahmen-Prüfung suchen, alternative Denk- und Handlungsweisen zur Lösung von Problemen entwickeln, mit Grenzen und Anfälligkeiten des Denkens umgehen lernen, Frühwarnsystem entwickeln: Situativ bemerken, wann Kritisches Denken aktiviert und eingesetzt werden sollte
Der Sachverhalt, der Gegenstand Kritischen Denkens werden soll, muss die Lernenden ansprechen, sie angehen, sie herausfordern und sie auf sich selbst zurückwerfen, um eine gesteigerte Aufmerksamkeit zu erzielen.