Buchbesprechung: Visible Learning - The Sequel

Hattie, John: Visible Learning: The Sequel. A Synthesis of over 2.100 Meta-Analysis Relating to Achievement. London und New York (Routledge Verlag) 2023, ISBN 978-1-032-46202-8, 510 Seiten, EUR 28,50.

Im Jahr 2008 erschien die größte Synthese von Meta-Analysen aus dem Bildungsbereich, die die Welt jemals gesehen hatte. Ihr Autor, der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie, und seine auf den gewaltigen Datensatz von über 800 Meta-Analysen aufbauende Theorie des “Visible Learning“ (VL) wurden damit weltberühmt. Spätestens mit der Übersetzung des Werkes ins Deutsche führte die “Hattie-Studie“ damals auch hierzulande zu vielen Debatten und Projekten für einen besseren Unterricht.

Nun hat Hattie 15 Jahre später die Fortsetzung vorgelegt: The Sequel weist einen noch gigantischeren Datensatz von über 2.100 Metaanalysen auf, die auf ein Sample von über 400 Millionen Lernenden weltweit zurückgreifen. Ein Großteil der Studien kommen nach wie vor aus Ländern mit hohem Einkommen, aber es werden auch einige Meta-Analysen aus finanziell schlechter gestellten Ländern weltweit berücksichtigt.

Hattie nimmt auch diesmal ausschließlich als zentrale Erfolgsgröße den kognitiven Lernerfolg der Lernenden in den Fokus. Um zu zeigen, wie die mittlerweile 350 identifizierten Faktoren sich jeweils auf kognitives Lernen auswirken, nutzt er erneut die Effektstärke als Vergleichsgröße. Vereinfacht gesprochen gibt diese Kennzahl Auskunft darüber, wie sich die jeweils untersuchte Intervention bzw. das untersuchte Merkmal im Vergleich zu anderen Einflussfaktoren auf die Lernleistung auswirkt bzw. damit korreliert. Und dennoch hat Hattie in der Fortsetzung vieles anders, praxisorientierter, selbstkritischer, systemkritischer und besser gemacht als im ersten Teil, wenngleich natürlich nicht alle Schwächen seines Ansatzes damit aufgehoben wären. Beispielsweise gibt es jetzt eine weitere Kennzahl “r“ zur Beurteilung der Verlässlichkeit der jeweils kalkulierten Effektstärken. Aus guten Gründen gibt es zudem keine Rangliste der Faktoren mehr. Wer sich aber für die Studien interessiert, kann jetzt alle verwendeten Metaanalysen auf https://www.visiblelearningmetax.com/ recherchieren.      

Kenne deinen Einfluss! Ist noch immer der zentrale Imperativ des Visible Learning. Lernen gelingt dann, wenn Lehrende ihren Unterricht aus der Warte der Lernenden sehen und daran ausrichten und Lernende zudem dazu befähigt werden, ihre eigenen wirksamen Lehrkräfte zu werden. Dafür brauchen Lehrende neben bestimmten Mindframes vor allem die Fähigkeiten des evaluativen, kritischen Denkens über und in ihrer Praxis, um etwa herauszufinden, wie Lernprozesse gerade laufen und abschätzen zu können, welcher Schritt als nächstes die lernförderlichste Wirkung erzielen könnte und wie dieser stimmig in den Prozess eingebettet werden sollte (Stichwort “Alignment“).      

Die Kernbotschaft aus Teil 1 wird durch die neuen Erkenntnisse also nicht abgeschafft. Vielmehr wird die Theorie an vielen Stellen durch die neue Empirie vertieft, ausdifferenziert oder erweitert, z. B. bei der optimalen Gestaltung von unterschiedlichen Lernprozessen. Unterricht, der auf Faktenwissen abzielt, benötigt beispielsweise andere Lehr- und Lernstrategien als Lernsituationen, die auf prozedurales Wissen und Transfer ausgerichtet sind.

Auch das Thema “digitale Technologien in Lehr-Lernsituationen“ wird diesmal ausführlich behandelt. Endlich sind jetzt auch zeitgemäße Formen des digital gestützten Lehrens und Lernens mit in der Untersuchung enthalten. Beispielsweise können KI-gestützte Tutoring-Systteme gute Erfolge beim Lernen erzielen, indem sie die Logik von Visible Learning beachten. Auch der Flipped-Classroom-Ansatz erzielt wünschenswerte Effektstärken, allerdings liegen die Ergebnisse hier je nach Meta-Studie und Herkunftsland weit auseinander. Insgesamt aber liegt noch immer viel Verbesserungspotential beim stimmigen Einsatz digitaler Technologien, um höhere Lernerfolge damit realisieren zu können.       

Fazit: Das 510-seitige Buch steckt voller wertvoller Erkenntnisse und Denkanstöße im Hinblick auf die Gestaltung von wirksamen Unterricht. Es lässt sich gut auf Englisch lesen, jedoch sind mache der Fachbegriffe nicht einfach ins Deutsche zu übertragen und müssen nachgeschlagen werden. Einige der alten Schwachstellen aus VL 1 wurden wie bereits erwähnt adressiert, andere wiederum bleiben durch den gewählten methodischen Ansatz bestehen. Auch The Sequel kann es etwa nicht schaffen zu zeigen, wie die unterschiedlichen Faktoren miteinander interagieren oder in unterschiedlichen Kontexten abschneiden. Es handelt sich hier also ausdrücklich nicht um ein Buch für Praktiker*innen, in dem schnell nachgeschlagen werden kann, wie zu verfahren ist. Im Gegenteil. Dennoch ist es die Leseanstrengung wert, um die eigenen Lehrpraxis zu hinterfragen und weiter zu professionalisieren. Es geht es nicht um die Frage, welche Methoden jeweils am besten eingesetzt werden sollten, sondern darum, wie Lehrende denken, die einen hohen Einfluss auf die Lernleistung aller ihrer Lernenden haben. Dafür bietet das Buch viele und empirisch gesättigte Impulse und Anlässe, die in die eigene Praxis übersetzt werden müssen.

Die ausführliche Version dieser gekürzten und leicht abgewandelten Rezension ist im Handbuch E-Learning - Expertenwissen aus Wissenschaft und Praxis (Hrsg. Prof. Thomas Köhler) im April 2024 im Fachverlag Deutscher Wirtschaftsdienst erschienen.


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